Die Digitalisierung der Fertigung, oft unter dem Schlagwort Industrie 4.0 zusammengefasst, führt in vielen Unternehmen zunächst zu einer „Buchstabensuppe“ aus Akronymen. ERP, MES, BDE, MDE, APS, CAQ – die Liste der Systeme ist lang. Für Produktionsleiter und IT-Entscheider ist es entscheidend, nicht nur die Einzelbedeutung dieser Kürzel zu kennen, sondern vor allem deren Hierarchie und Zusammenspiel zu verstehen.
Eine effiziente Produktion („Smart Factory“) entsteht nicht durch die Anschaffung einzelner Software-Inseln, sondern durch die nahtlose vertikale Integration dieser Systeme. Es geht darum, die kaufmännische Ebene (Topfloor) mit der operativen Fertigungsebene (Shopfloor) in Echtzeit zu vernetzen. Dieser Artikel ordnet die wichtigsten Software-Klassen ein und definiert, welche Anforderungen eine moderne IT-Architektur erfüllen muss, um Datenflüsse ohne Medienbrüche zu gewährleisten.
Das Wichtigste in Kürze
- Klare Aufgabenteilung: Das ERP-System fungiert als kaufmännischer Rahmen für Ressourcen und Grobplanung, während das MES als operative Datendrehscheibe die Fertigung in Echtzeit steuert und überwacht.
- Datendurchgängigkeit: Der größte Effizienzgewinn entsteht durch bidirektionale Schnittstellen, bei denen Auftragsdaten vom ERP ins MES fließen und Ist-Daten (Stückzahlen, Zeiten) automatisch zurückgemeldet werden.
- Erweiterte Architektur: Für komplexe Anforderungen ergänzen Spezialsysteme wie APS (Feinplanung) oder CAQ (Qualitätsmanagement) das Duo aus ERP und MES, um spezifische Prozesse wie Kapazitätsoptimierung oder Prüfplanung abzudecken.
Das Rückgrat: Enterprise Resource Planning (ERP)
Das ERP-System (z. B. SAP, Microsoft Dynamics, proALPHA) ist das führende System im Unternehmen. Es verwaltet die Stammdaten und bildet die kaufmännischen Prozesse ab – vom Einkauf über den Vertrieb bis hin zur Finanzbuchhaltung und Personalwirtschaft.
In der Produktion übernimmt das ERP die Primärbedarfsplanung. Es beantwortet die Fragen: Was müssen wir produzieren, um die Kundenaufträge zu erfüllen? Welches Material muss dafür wann beschafft werden? Das ERP plant gegen unbegrenzte Kapazitäten und erstellt Fertigungsaufträge.
Die Grenzen des ERP: Ein ERP-System ist in der Regel „blind“ für das tatsächliche Geschehen in der Halle. Es arbeitet oft in gröberen Zeitrastern (Tagen oder Schichten) und kennt den aktuellen Status einer einzelnen Maschine nicht. Es weiß, dass ein Auftrag eingeplant ist, aber nicht, ob die Maschine gerade wegen Werkzeugbruch steht oder ob der Ausschuss höher ist als kalkuliert.
Der Dirigent: Manufacturing Execution System (MES)
Hier kommt das MES ins Spiel. Es ist das Bindeglied zwischen der kaufmännischen Ebene und der Maschinensteuerung. Das MES übernimmt die Grobplanung des ERP und verfeinert sie für die operative Ausführung. Es arbeitet in Echtzeit.
Die Kernaufgaben eines MES umfassen:
- Betriebsdatenerfassung (BDE): Erfassung von Auftragszeiten, Stückzahlen und Personalzeiten.
- Maschinendatenerfassung (MDE): Direkte Anbindung an die Maschinensteuerung (SPS), um Status (Lauf, Störung, Rüsten), Taktraten und Prozessparameter auszulesen.
- Leitstand: Visualisierung des aktuellen Fertigungsstatus für den Meister oder Schichtleiter.
- OEE-Berechnung: Ermittlung der Gesamtanlageneffektivität (Overall Equipment Effectiveness) basierend auf Verfügbarkeit, Leistung und Qualität.
Das MES meldet dem ERP zurück, was tatsächlich passiert ist. Diese Rückmeldung ermöglicht dem ERP eine exakte Nachkalkulation und Bestandsführung.
Die Spezialisten: APS, CAQ und PLM
In einfachen Fertigungsumgebungen reichen ERP und MES oft aus. Bei komplexen Anforderungen stoßen sie jedoch an Grenzen, weshalb spezialisierte „Add-on“-Systeme notwendig werden.
APS (Advanced Planning and Scheduling)
Wenn die Fertigung viele Varianten, komplexe Rüstmatrizen oder engpassbezogene Ressourcen aufweist, reicht die Planung im ERP oder MES oft nicht aus. Ein APS-System ist spezialisiert auf die Feinplanung gegen begrenzte Kapazitäten. Es nutzt komplexe Algorithmen, um die optimale Reihenfolge der Aufträge zu berechnen. Dabei berücksichtigt es Faktoren wie Liefertermine, Rüstzeitenoptimierung, Personalverfügbarkeit und Materialbestand gleichzeitig. Das APS visualisiert die Planung oft in einer digitalen Plantafel (Gantt-Chart).
CAQ (Computer Aided Quality)
Qualitätssicherung ist mehr als nur „Gut“ oder „Schlecht“. Ein CAQ-System unterstützt das Qualitätsmanagement normgerecht (z. B. nach ISO 9001 oder IATF 16949). Es verwaltet Prüfpläne, steuert Prüfmittel (Kalibrierung), erfasst Messwerte (SPC) und managt Reklamationen. Während ein MES oft einfache Qualitätsdaten („5 Stück Ausschuss“) erfasst, bietet das CAQ die tiefe Analyse der Fehlerursachen und die Dokumentation für Audits.
PLM (Product Lifecycle Management)
Das PLM-System ist das Gedächtnis der Produktentwicklung. Es verwaltet alle produktbezogenen Daten von der ersten Idee bis zum End-of-Life. Dazu gehören CAD-Modelle, Stücklisten (BOMs) und Zeichnungen. Eine Integration zum ERP ist essenziell, um sicherzustellen, dass die Fertigung immer mit der aktuell freigegebenen Stücklistenversion arbeitet.
Anforderungen an die IT-Architektur
Damit diese Systeme „sinnvoll zusammenspielen“, müssen Unternehmen bei der Auswahl auf spezifische technische Kriterien achten. Monolithische Systeme („Alles aus einer Hand“) werden zunehmend durch „Best-of-Breed“-Ansätze (Die beste Lösung für jeden Bereich) abgelöst. Das erfordert jedoch hohe Integrationsfähigkeit.
1. Offene Schnittstellen (Connectivity)
Das wichtigste Kriterium ist die Kommunikationsfähigkeit. Proprietäre Schnittstellen sind ein Investitionsrisiko. Moderne Software muss über standardisierte APIs (Application Programming Interfaces), vorzugsweise REST oder Web Services, verfügen. Auf der Maschinenebene hat sich OPC UA als Standard für den Datenaustausch etabliert. Dies ermöglicht es, Daten plattformunabhängig und sicher zu übertragen.
2. Echtzeitfähigkeit
Batch-Verarbeitung (z. B. Datenabgleich einmal pro Nacht) ist für moderne Fertigungssteuerung nicht mehr zeitgemäß. Wenn eine Maschine stillsteht, muss das APS-System dies sofort wissen, um den Plan anzupassen. Daten müssen ereignisgesteuert fließen.
3. Usability und Mobilität
Software muss dort verfügbar sein, wo sie gebraucht wird. Ein MES-Terminal muss touchfähig und robust sein. Ein Instandhaltungs-System muss auf dem Tablet des Technikers laufen. Die Benutzeroberflächen müssen intuitiv sein, um die Akzeptanz bei den Werkern zu sichern. Komplizierte Masken führen zu Fehleingaben oder Umgehungslösungen.
Fazit: Datenfluss statt Datensilos
Die Frage ist nicht „ERP oder MES?“, sondern „Wie integrieren wir beides?“. Eine sinnvolle IT-Landschaft in der Fertigung zeichnet sich dadurch aus, dass Daten nur einmal erfasst werden (idealerweise automatisch) und dann allen Systemen zur Verfügung stehen.
Der Maschinenbauer oder Fertiger muss eine Architektur schaffen, in der das ERP die kaufmännische Hoheit behält, das MES die operative Exekution steuert und Spezialsysteme wie APS und CAQ bei Bedarf tiefergehende Funktionen liefern. Nur wenn diese Systeme eine gemeinsame Sprache sprechen, wird aus einer Ansammlung von Software eine steuerbare Fabrik.
