Über Jahrzehnte folgte das globale Supply Chain Management einer einfachen Maxime: Kostenminimierung durch globale Arbeitsteilung. Produziert wurde dort, wo die Löhne am niedrigsten waren, und gelagert wurde auf der Straße („Just-in-Time“). Dieses System der Hyper-Effizienz hat der Weltwirtschaft günstigen Konsum und hohe Margen beschert – solange die Welt friedlich und die Grenzen offen waren.
Die Kaskade an Krisen der frühen 2020er Jahre – von der Pandemie über blockierte Schifffahrtswege bis hin zu geopolitischen Handelskriegen – hat die Fragilität dieses Modells brutal offengelegt. Für Industrieunternehmen ist Versorgungssicherheit heute wichtiger als der letzte Cent Einsparung beim Einkaufspreis. Der Trend geht massiv weg von der reinen Kosteneffizienz hin zur Resilienz. Doch wie baut man eine Lieferkette um, die über Jahrzehnte auf Abhängigkeit programmiert war? Dieser Artikel beleuchtet die strategischen Hebel für mehr Souveränität in der Beschaffung.
Das Wichtigste in Kürze
- Diversifizierung (Multi-Sourcing): Die Abkehr vom Single Sourcing hin zu einer breiteren Lieferantenbasis reduziert Klumpenrisiken, erfordert jedoch ein komplexeres Lieferantenmanagement und höhere Prozesskosten.
- Regionalisierung (Nearshoring): Die Verkürzung der Lieferwege durch Verlagerung der Produktion in geographische Nähe der Absatzmärkte (z. B. Osteuropa für die EU) minimiert Transportrisiken und erhöht die Reaktionsgeschwindigkeit.
- Tiefentransparenz: Resilienz erfordert Wissen über die gesamte Kette (Tier-n); Unternehmen müssen digitale Tools einsetzen, um Risiken bei den Vor-Vor-Lieferanten zu erkennen, bevor diese zum Bandstillstand führen.
De-Risking: Die Abkehr vom Klumpenrisiko
Das größte Risiko moderner Lieferketten ist die Konzentration. Wenn 80 Prozent der kritischen Komponenten (z. B. bestimmte Halbleiter oder seltene Erden) aus einer einzigen Region oder von einem einzigen Lieferanten kommen, besteht ein „Single Point of Failure“.
Die Strategie des De-Risking zielt darauf ab, diese Abhängigkeiten zu reduzieren, ohne die Vorteile des globalen Handels komplett aufzugeben. Ein zentrales Element ist die „China Plus One“-Strategie. Unternehmen ziehen sich nicht vollständig aus China zurück (was oft aufgrund der Marktgröße unmöglich ist), aber sie bauen parallele Strukturen auf. Für den chinesischen Markt wird lokal in China produziert („In China for China“). Für den Weltmarkt oder den Export in die USA werden jedoch alternative Hubs in Vietnam, Indien oder Mexiko aufgebaut. Dies schafft Redundanz: Fällt ein Standort aus, kann der andere (zumindest teilweise) einspringen.
Nearshoring und Friendly Shoring: Geografie als Sicherheitsfaktor
Die Globalisierung wird regionaler. Der Trend zum Nearshoring holt die Produktion näher an den Heimatmarkt zurück. Für deutsche Maschinenbauer bedeutet dies oft eine Verlagerung von Asien nach Osteuropa (Polen, Rumänien, Ungarn) oder in die Türkei.
Die Vorteile liegen auf der Hand:
- Kürzere Transportwege: Lkw statt Containerschiff. Die Ware ist in 2 Tagen da, nicht in 6 Wochen. Das reduziert das gebundene Kapital („Inventory in Transit“) drastisch.
- Kulturelle und zeitliche Nähe: Die Zusammenarbeit in derselben Zeitzone erleichtert die Kommunikation und Qualitätssicherung.
- Politische Stabilität (Friendly Shoring): Die Verlagerung in politisch verbündete Staaten minimiert das Risiko von plötzlichen Zöllen, Sanktionen oder Enteignungen.
Vertikale Integration: „Make“ statt „Buy“
In den Hochzeiten des Lean Managements war die Fertigungstiefe verpönt. „Konzentriere dich auf deine Kernkompetenz und kaufe den Rest zu“, war das Mantra. Heute dreht sich dieser Trend teilweise um.
Um die Hoheit über kritische Technologien und Bauteile zurückzugewinnen, setzen Unternehmen wieder auf Insourcing oder vertikale Integration.
- Beispiel Automobilindustrie: Statt Batteriezellen nur einzukaufen, bauen Hersteller eigene Zellfabriken, um nicht von asiatischen Zulieferern abhängig zu sein.
- Beispiel Maschinenbau: Die Software-Entwicklung oder die Fertigung hochpräziser Schlüsselkomponenten wird zurück ins Haus geholt.
Diese Strategie erfordert hohe Investitionen (CAPEX), sichert aber die Unabhängigkeit und schützt das geistige Eigentum.
Transparenz: Das Ende des Blindflugs
Man kann nicht managen, was man nicht sieht. Viele Unternehmen kennen ihre direkten Lieferanten (Tier-1) sehr gut. Aber wer liefert dem Lieferanten den Rohstahl? Wer liefert dem Chiphersteller das Edelgas? (Tier-2, Tier-3).
Die meisten Lieferkettenabrisse entstehen tief in der Kette. Resilienz erfordert daher Tiefentransparenz. Moderne Supply Chain Control Towers und KI-Tools scannen Nachrichten, Wetterdaten und Finanzberichte weltweit, um Risiken bei Sub-Lieferanten zu erkennen.
- Szenario: Ein Erdbeben in Japan legt ein Chemiewerk lahm. Ein digitales System warnt den deutschen Maschinenbauer sofort: „Achtung, dein Lieferant für Dichtungen bezieht sein Granulat aus diesem Werk. In 4 Wochen droht ein Engpass.“ Dies verschafft dem Einkauf die entscheidende Zeit, um Alternativen zu suchen, bevor der Wettbewerb reagiert.
Lagerhaltung: Strategische Puffer statt Leere
Wie bereits im Kontext des „Atmenden Lagers“ diskutiert, erlebt die Lagerhaltung eine Renaissance als strategisches Instrument. Safety Stock ist keine Verschwendung mehr, sondern eine Versicherungspämie.
Dabei geht es nicht um wahllose Bevorratung, sondern um intelligentes Bestandsmanagement kritischer Komponenten (C-Teile, Halbleiter), die schwer zu beschaffen sind, aber wenig Lagerplatz kosten. Die Kosten für das Lager sind fast immer niedriger als die Kosten eines Produktionsstillstands.
Fazit: Resilienz kostet Geld, Ineffizienz kostet die Existenz
Die Umgestaltung der Lieferketten ist kein Projekt von Wochen, sondern eine Transformation von Jahren. Sie kostet Geld: Doppelte Werkzeuge für zwei Lieferanten, höhere Lagerbestände oder teurere Produktion im Nearshoring-Bereich drücken auf die Marge.
Doch in der neuen geoökonomischen Realität ist diese „Ineffizienz“ der Preis für die License to Operate. Ein Unternehmen, das zwar theoretisch die günstigsten Kosten hat, aber nicht liefern kann, weil der einzige Container im Suezkanal feststeckt, verliert Marktanteile an den Wettbewerber, der zwar teurer ist, aber lieferfähig bleibt. Lieferfähigkeit ist die neue Währung im B2B-Geschäft.
